Zaunkönig

Anmerkungen des Regisseurs

Anmerkungen Regie

Martin war mein Freund. Er ist jung an seinem Drogenkonsum gestorben, hat sein Leben weggeworfen. Ich lebe. Der Sachverhalt scheint klar. Bis ich Martins Tagebücher erhalte.

Auf meinem Laptop öffnet sich die Textdatei, die mir Martins Mutter geschickt hat. Zuerst ein Bild: Rosen, mit Farbstiften ausgemalt, abstrahiert im Raster des Häuschenpapiers. Eine von Martins Zeichnungen. Darunter: Martin Felix (1971 – 2005) Tagebücher.

 Ivo wird am Wochenende in Chur sein. Auf dieses Wiedersehen freue ich mich: mein in vielen Dingen vorbildlicher, manchmal etwas lästig zurechtweisender Ivo, mein lieber Freund. (Aus Martins Tagebuch vom 17. Januar 1998)

Beim Lesen höre ich Martins Stimme. Ich tauche ein in die Zeit gegen Ende des Gymnasiums. Obschon wir in den letzten Jahren vor seinem Tod kaum voneinander gehört hatten, ist er mir nahe. Martin schreibt auch über Ereignisse, die wir gemeinsam erlebt haben. Unterhaltend und witzig. Ich habe vieles anders in Erinnerung.

Waren wir wirklich Freunde? Was macht eigentlich eine Freundschaft aus? Wir haben viel zusammen gelacht, hatten einen ähnlichen, schrägen Humor. Was uns wohl am meisten verband, war eine Unzufriedenheit mit der Welt. Wir bedauerten die Entzauberung des modernen Lebens. Mit Haschisch und LSD suchten wir die Sensationen, welche uns die nüchterne Gegenwart vorenthielt.

Während ich gewisse Passagen aus dem Tagebuch lese, möchte ich Martin etwas zurufen, ihn unterstützen wenn er einen Plan hat, um sein Leben wieder zu ordnen, ihn in die eigene Wohnung einschliessen, damit er nicht immer wieder aufs neue losziehen kann, um sich Heroin oder Kokain zu besorgen – der Anfang von jedem neuen Absturz. Gebannt und gerührt, dann entsetzt, verfolge ich lesend, wie das Leben Martin Momente des Glücks und der Liebe beschert und doch zielstrebig auf seinen frühen Tod hinzielt.

Martin spielte die Hauptrolle in meinem ersten Kurzfilm mit dem Titel «Mörfi». War ich fasziniert von seinem extremen Lebenswandel und hatte ich ihn als Freak für meine filmische Arbeit benutzt? Als sich dann unsere Wege erneut trennten, warf ich mir vor, für die Realisierung des «Mörfi»-Films zu viel von meinem Freund verlangt zu haben. Doch ich wollte weiterhin Filme machen und so war ich auch enttäuscht, dass Martin nicht im Stande war, mich dabei zu unterstützen.

Als ich bereits an der Filmschule in Genf war, verbrachte ich zum letzten Mal mehrere Tage mit Martin. Wir wanderten gemeinsam an den Crestasee. Für die Jahresarbeit in der Fotografieklasse machte ich Bilder von Martin und seiner Mutter, die beide im Churer Neustadtquartier Lacuna wohnten, nur zwei Minuten voneinander entfernt. Am Samstagabend assen sie bei der Mutter und spielten Scrabble. Beide mit einem beeindruckenden Wortschatz.

Mir ging es während dieses Aufenthaltes in Chur gar nicht gut. Nach einer Trennung hatte ich panische Angst, alles zu verlieren, was mein bisheriges Leben ausgemacht hatte. Die Fotografiearbeit war für mich überlebenswichtig geworden. Auf den Schwarzweissbildern sehe ich Martin und erinnere mich, wie er damals war. Gezeichnet von den Drogen, etwas apathisch, doch auch mit einer gewissen Ruhe und Zuversicht. Martin hat diese Tage ebenfalls dokumentiert und in einem grünen Schulheft ausführlich darüber geschrieben: Wie ich ihn in der Nacht weckte, schlaflos und in Panik ständig aufstand, um zu Rauchen. Als ich im Tagebuch las, dass er mich egoistisch fand, weil ich ihn nicht in seinem Bett schlafen liess, hat mich das zunächst befremdet. Hatte er nicht mehr Verständnis für die schwierige Situation seines Freundes?

Heute weiss ich, dass diese verrückten Tage, die ich damals bei Martin verbrachte, wichtig für mich waren. Trotz unserer Differenzen hatte mir Martins ruhige Art gut getan. Ich hatte die Bilder für meine Fotoarbeit gemacht und kehrte mit neuer Zuversicht nach Genf zurück, schloss das Jahr an der Filmschule erfolgreich ab.

Mit dem Film "Zaunkönig - Tagebuch einer Freundschaft" erzähle ich von Martin und von mir. Wer wir waren und was wir sein wollten. Es ist die Geschichte einer Freundschaft, die auch ihre Schattenseite hatte.

Bei der Arbeit an diesem Film habe ich erfahren, wie überlebenswichtig es ist, Ambitionen zu haben und sich Ziele zu setzen – realisierbare und utopische. Ob es dafür einen starken Willen oder grosses Glück braucht? Wahrscheinlich beides.